Nicola Ackemann-Achner
Interview mit Nicola Ackemann-Achner
Vielen Dank, Frau Ackemann-Achner, dass Sie mit uns auf einen für Ihre Familie bedeutsamen Tag zurückblicken – den Tag der Reanimation Ihres Sohnes. Ist der Tag rückblickend für Sie der schlimmste oder der schönste Tag Ihres Lebens?
In diesem Vergleich auf jeden Fall der schlimmste – vor allem, weil wir nicht wussten, inwieweit unser Sohn ohne bleibende Schäden aus der Situation herausgehen würde. Gleichzeitig bestand natürlich ein Gefühl von Schuld. Ich habe mir selbst vorgeworfen, nicht ausreichend gut aufgepasst zu haben, so dass es überhaupt zu dem Unfall kommen konnte.
Wann genau passierte der Unfall? Und was ist dem Unfall vorausgegangen?
Das war im Juni 1996. Da war unser Sohn 2 ¼ Jahre alt. Wir waren an dem Tag in den Urlaub, in unser Ferienhaus in den bayerischen Alpen, aufgebrochen. Es war eine lange Autofahrt von acht bis neun Stunden von Hamburg aus mit fünf Kindern, unseren vier eigenen und einem Gastkind. Meine Mutter begleitete uns. Mein Mann konnte aus beruflichen Gründen nicht mit uns fahren. Er war in Hamburg geblieben.
Bei unserer Ankunft war gutes Wetter und unsere älteren Töchter wollten mit dem Gastkind spazieren gehen auf der Alm. Ich musste David versorgen, unseren ältesten Sohn, der schwer erkrankt war. Felix, unser kleiner Sohn, um den es hier in der Geschichte geht, wollte nicht mitgehen. Ich fand den Gedanken, dass Felix draußen alleine spielt, nicht so günstig. Eigentlich wollte ich meine Töchter bitten, ihn mitzunehmen. Aber wie das so ist, wenn man ein Kind hat, das besonderer Fürsorge bedarf, muss man aufpassen, die Geschwister nicht zu sehr zu belasten. Man möchte nicht immer sagen, ‘Du musst jetzt auf den Bruder’ aufpassen. Und so habe ich die Mädchen ziehen lassen, zu unserem kleinen Sohn gesagt ‘Spiel hier schön am Haus und geh nicht weg’ und bin zu David hineingegangen.
Wie kam es nun zu dem Unglück?
Auf dem Grundstück gibt es einen Swimmingpool. Der ist ca. 1,50 bis 1,60 m tief. Felix spielte auf der Holzveranda mit seinem Bobbycar. Irgendwann registrierte ich, dass ich nichts mehr von ihm hörte. Ich bin rausgelaufen – und intuitiv direkt zum Pool. Am Boden lag Felix. Später haben wir vermutet, dass er sein Bobbycar putzen wollte und dabei in den Pool gefallen ist, weil er ein Tuch in der Hand hatte.
Konnten Sie in dem Moment, in dem Sie Ihren Sohn im Pool sahen, einen klaren Gedanken fassen?
Ich bin direkt ins Wasser gesprungen und habe Felix herausgeholt. Da war kein Zögern oder Überlegen. Ich glaube, ich habe meine Brille abgenommen. Aber letztendlich weiß ich das nicht mehr. Der einzige Gedanke, den ich meiner Erinnerung nach sogar laut gerufen habe, war, ‘Nein, nicht dieses Kind’. Meinem Mann und mir war klar, dass unser großer Sohn keine lange Lebenserwartung haben würde und wir waren so glücklich, diesen gesunden Jungen zu haben. Der Gedanke, dass dieses Kind sterben könnte, war unerträglich.
Und dann lag Felix leblos vor mir. Meine Mutter kam angelaufen und rief mir zu: "Du musst ihn beatmen". Und dann habe ich angefangen, das zu tun. Heute weiß ich, dass ich besser eine Herzdruckmassage gemacht hätte. Damals habe ich ihn beatmet. Und es hat Gott sei Dank gereicht, obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorkam. Er kam mit einer Art Schnappatmung zu sich und hat sich erbrochen. Wir haben ihn ins Haus getragen.
Es kam Hilfe aus der Luft – ein Rettungshubschrauber mit Notarzt. Wer hat den gerufen?
Eine Nachbarin, die das Unglück mitbekommen hatte, hat den Notruf gewählt. Ich glaube, meine Mutter hatte sie darum gebeten. Aus der nächsten Kreisstadt wurde jedenfalls ein Rettungshubschrauber mit Notarzt geschickt. Der Notarzt wurde hinter dem Haus auf der Wiese abgesetzt, weil der Hubschrauber nicht landen konnte. Er hat Felix übernommen. Unser Sohn wurde beatmet und hat eine Infusion gekriegt. Man hat ihn mit dem Krankenwagen, der ebenfalls kam, zu der Stelle transportiert, wo der Rettungshubschrauber wartete. Felix wurde ins Krankenhaus geflogen. Ich bin mit dem Auto hinterhergefahren.
Hatten Sie sich vor diesem Unglück schon einmal mit dem Thema Reanimation beschäftigt und Kenntnisse, was zu tun ist?
Ja. Das war aber einige Jahre her. Ich hatte einen Kurs gemacht zum Thema "Erste Hilfe am Kind". Und natürlich hatte ich etwas Wissen aus den Sofortmaßnahmen am Unfallort, die man für den Führerschein gezeigt bekommt. Aber das war natürlich auch schon lange Zeit her.
Ihr Sohn wurde ins Krankenhaus gebracht. Was passierte dort?
Felix wurde auf die Kinderintensivstation gebracht und in ein künstliches Koma versetzt, um einen Anstieg des Hirndrucks zu vermeiden. Später habe ich erfahren, dass er auf dem Flug in die Klinik wegen Atemproblemen noch zweimal stabilisiert werden musste.
Wie haben Sie die Zeit empfunden, als Ihr kleiner Sohn im künstlichen Koma lag?
Ich bin eher intellektgesteuert und habe die medizinischen Maßnahmen verstanden. Es ändert trotzdem nichts an der Situation, dass man eine Woche lang Ungewissheit hat. Was wird werden? Wird er aufwachen? Wird er nicht aufwachen? Wie wird er sein, wenn er aufwacht?
Die Ärzte haben Untersuchungen gemacht, zum Beispiel einen Ultraschall vom Kopf. Die diensthabende Ärztin beruhigte mich, indem sie sagte, dass alles gut aussehe. Es gab aber auch ein anderes, negatives Beispiel. Als ich mit dem Chefarzt am Bett meines Sohnes stand, sagte er so etwas wie, sie würden ja alles wieder zusammenflicken, aber Ertrunkene seien das Schlimmste. Er habe mal einen Patienten gehabt, bei dem alles gut aussah, dann habe der aber einen Abszess im Gehirn bekommen und alles sei umsonst gewesen. Danke fürs Gespräch, habe ich gedacht. Das muss ich jetzt nicht hören. Was man mir von allen Seiten bestätigte ist, dass es gut war, dass das Wasser des Pools so kalt war. Der Organismus fährt ganz schnell runter. Dem Körper macht es dann weniger aus, dass die Durchblutung unterbrochen wird.
Felix lag schließlich eine Woche im künstlichen Koma, und ich war bei ihm in der Klinik. Nach einiger Zeit konnte ich sogar einige Maschinen selbst bedienen. Ich habe Felix vorgelesen oder vorgesungen, weil ich gehört hatte, dass es Menschen im Koma vielleicht erreicht, wenn sie die vertrauten Stimmen oder die vertrauten Geschichten hören.
Irgendwann wurde die Beatmung reduziert. Wir wurden darauf vorbereitet, dass Kinder ein so genanntes Durchgangsstadium vor dem Erwachen durchlaufen. Sie sind dann sehr unruhig. Mein Mann, der natürlich sofort nach dem Unfall nachgereist war und ich warteten am Bett auf ein erstes Lebenszeichen. Als Felix aufwachte, lasen wir ihm gerade ein Buch vor, das er sehr gut kannte. Vor dem Unfall hatte er stets Sätze vervollständigt. Es kam nun wieder die Stelle, an der er vor dem Unfall stets sagte, "Lampe putt" – und er schlug die Augen auf und sagte "Lampe putt". Und da war für uns klar, ja, er ist wieder da.
Erinnert Ihr Sohn etwas von dem Unglück?
Gar nichts. Kinder haben sowieso keine Erinnerung an eine so frühe Kindheit. Außerdem gibt es die retrograde Amnesie. Das kennt man auch von älteren Kindern und Erwachsenen. Man hat keine Erinnerung an solche Unfälle. Felix hat ganz normal schwimmen gelernt und ein entspanntes Verhältnis zu Wasser entwickelt.
Hat sich nach dem Unglück Ihr Verhältnis zu Ihrem Sohn verändert? Beschützen Sie ihn mehr als vorher?
Nein, ich glaube nicht. Ich bin eine Mutter, die immer versucht, für ihre Kinder da zu sein. In mancher Hinsicht hat Felix uns mehr gefordert als seine Schwestern, zum Beispiel durch eine gewisse Portion Faulheit in der Schulzeit. Da habe ich ihn sicher in mancher Hinsicht mehr unterstützen müssen als seine Schwestern. Aber ich konnte ihn auch loslassen.
Wird heute noch in der Familie über das Unglück gesprochen?
Ja, darüber sprechen wir schon. Unser Sohn hat auch eine bleibende Erinnerung, eine Delle am Kopf, einen Dekubitus. Beim Friseur sagt er immer, ‘und da bitte die Haare ein bisschen länger lassen’. Außerdem sagt er, es sei zu ärgerlich, dass er an das einzige Mal im Leben, bei dem er bislang im Helikopter geflogen ist, keine Erinnerung habe.
Gibt es etwas, das Sie jungen Eltern mitgeben möchten?
Meine Botschaft an junge Eltern ist: Man soll natürlich auf seine Kinder aufpassen, nur kann man nicht in jedem Moment da sein. Um Kinder heil groß zu ziehen, braucht es auch dieses Quäntchen Glück. Ein Unglück kann immer passieren. Man sollte Eltern die Schuldgefühle nehmen, wenn etwas passiert. Wenn ein Unglück passiert, finde ich es fatal, mit Schuldzuweisungen zu arbeiten. Mein Mann hat mir nie einen Vorwurf gemacht.
Was ich noch ergänzen möchte: Ich engagiere mich ehrenamtlich beim Kriseninterventionsteam des DRK, auch weil ich selbst krisenhafte Situationen erlebt habe. In dem Zusammenhang mache ich aktuell eine Sanitätsausbildung, weil man das in Einsätzen durchaus gebrauchen kann. Meine Botschaft ist: Die Menschen sollen sich trauen zu helfen, am Schlimmsten ist es, nichts zu tun.
Wir haben allerdings noch etwas Anderes getan: Wir haben den Pool, in den Felix gefallen ist, eingezäunt. Heute kann kein Kind mehr einfach so hineinfallen.
Vielen Dank, Frau Ackemann-Achner, dass Sie diese sehr persönlichen Schicksalsmomente mit uns geteilt haben. Ihnen und Ihrer Familie weiterhin alles Gute.