Luis Nadler
Hallo Luis, wir treffen dich in München am Ostbahnhof. Warum genau hier?
Luis Nadler: Hier hat sich 2022 meine Reanimation zugetragen. Ich habe eine Frau wiederbelebt.
Wow, wie kam es dazu?
Luis Nadler: Ich ging hier um die Ecke zur Schule. Nach der Mittagspause war ich auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer. Ich lief durch den Ostbahnhof, hörte Musik und sah eine Menschenansammlung. Ich habe zuerst angenommen, dass das die Warteschlange vor der Bahnhofstoilette ist.
Das war aber keine Warteschlange, oder?
Luis Nadler: Richtig. Das habe ich auch nach einigen Metern reflektiert. Ich bin wieder zurückgelaufen. Denn die Personen standen nicht wartend, sondern sie schauten auf den Boden.
Konntest du denn erkennen, wohin die Menschen schauten?
Luis Nadler: Ich habe mir einen Weg gebahnt und sah eine Frau am Boden liegen. Niemand hat der Frau geholfen, obwohl ca. acht Personen herumstanden. Ich habe gesagt, dass ich von der Freiwilligen Feuerwehr bin und sie mir Platz machen sollen. Ich habe sofort die Vitalwerte der Frau geprüft. Aber sie war weder ansprechbar, noch hatte sie Puls, noch veränderte sich ihre Pupille, wenn man in die Augen leuchtete. Ich habe sie in die stabile Seitenlage gedreht. In dem Moment kamen zwei Polizisten dazu.
Hat die Polizei dir geholfen?
Luis Nadler: Der eine Polizist hat den Notruf gewählt; der andere hat die Menschen zurückgedrängt.
Was genau haben die Menschen denn gemacht, wenn sie nicht geholfen haben?
Luis Nadler: Ich nenne so ein Verhalten gaffen. Sie standen herum, haben beobachtet – und, was mich am meisten ärgert ist, dass einige mit ihren Smartphones gefilmt und Fotos gemacht haben. Das hat die Polizei dann unterbunden.
Wie ging es weiter?
Luis Nadler: Der eine Polizist hat mir einen Filter gegeben, den man sich für eine hygienische Beatmung vor den eigenen Mund und die Nase halten kann.
„Ich habe die Frau beatmet und mich bei der Herzdruckmassage mit dem Polizisten abgewechselt.“
Nach kurzer Zeit war dann der Rettungsdienst da und hat die Frau ins Krankenhaus mitgenommen.
Weißt du, wie es der Frau weiter erging?
Luis Nadler: Ich bin erst einmal in die Schule zurückgelaufen. Schließlich war ich viel zu spät. In der Schule habe ich dann durch einen Anruf von den Polizisten mitgeteilt bekommen, dass die Frau das Bewusstsein zurückerlangt hat. Die Polizisten mir gedankt, dass ich ihr das Leben gerettet habe. Das hat mich sehr stolz gemacht. Und erst dann habe ich für mich realisiert, was ich erlebt habe. Ich musste mich erstmal sortieren und habe darum gebeten, dass ich an dem Tag früher nach Hause gehen kann.
Waren denn auch deine Lehrer*innen und Mitschüler*innen beeindruckt?
Luis Nadler: Die haben mir ja gar nicht geglaubt. Es brauchte erst einen Artikel in der Zeitung am nächsten Tag. Der hing in der Schule am Schwarzen Brett aus. Erst dann waren sie beeindruckt und sagten nicht mehr länger, dass ich wohl einfach die Mittagspause überzogen habe.
Deine Heldentat wurde in einem längeren Zeitungsartikel gewürdigt. Was bedeutet dir das?
Luis Nadler: Ich bin natürlich stolz. Aber mehr darüber, dass die Frau wieder zu sich kam. Es hat sich herausgestellt, dass sie eine Vorerkrankung hatte. Leider ist sie einige Tage nach der Reanimation dennoch verstorben. Ich habe aber die Gewissheit, dass sie sich noch von ihrer Familie verabschieden konnte. Das bedeutet mir viel.
Wie sieht dein persönliches Fazit aus dieser Geschichte aus?
Luis Nadler: Ich hatte durch Zufall etwas Vorwissen über Erste Hilfe von der Freiwilligen Feuerwehr. Das ist aber nicht entscheidend. Wichtig ist doch, dass man überhaupt hilft. Nicht zu helfen, finde ich, geht gar nicht. Ich würde mir auch wünschen, dass man mir in einer solchen Situation hilft. Und ganz ehrlich: Mindestens den Notruf wählen, kann doch jeder von uns. Vielleicht spornt meine Geschichte andere Menschen an, ihre Hemmungen zu helfen abzubauen. Deshalb nehme ich auch hier teil und erzähle meine Geschichte.