Kristin Rothmann

Frau Rothmann, vielen Dank, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben, Ihre Erlebnisse mit uns zu teilen. Wie alt waren Sie, als Sie reanimiert werden mussten?

Ich war damals 17 Jahre alt, mitten in der Vorbereitung aufs Abitur, elfte Klasse. Ich hatte gerade meinen Führerschein erworben, bin mit dem Moped viel durch die Gegend gefahren, habe am Wochenende Party gemacht – was man in dem Alter so macht. Ich hatte einen Freund, der in der Nähe gewohnt hat und Sportstudent war. Mein Plan war es, nach dem Abitur ein Jahr lang nach Australien zu gehen und dann zum Studium nach Jena zu meinem Freund zu ziehen. Ich wollte gerne Gymnasiallehramt Geografie und Latein studieren. Das war alles schon eingetütet.

Doch dann ist alles ganz anders gekommen – gab es vor dem Vorfall irgendwelche Vorzeichen?

Ein paar Tage vor dem Vorfall hatte ich ein bisschen Luftnot beim Treppensteigen oder bei längeren Wegen. Ich bin in der Schule die versteckten Flure hoch und runter, damit keiner sieht, dass ich mit der Luft ein bisschen zu kämpfen habe. Und was denkt man als 17-jähriges Mädchen? Du hast dich mal erkältet oder so. Ich war Nichtraucherin, daran konnte es also auch nicht liegen. Als junger Mensch fühlt man sich immer unverwundbar.

Sie haben aus den Symptomen keine Konsequenzen gezogen?

Doch, ich hatte in der Woche bereits meine privaten Trainings am Nachmittag abgesagt – das Volleyballspielen und die Tanzgruppe. Und an dem betreffenden Donnerstagnachmittag wollte ich mir für den Sportunterricht in der Schule ein Attest holen. Deshalb bin ich nach der 5. Stunde zu meiner Kinderärztin zwei Straßen hinterm Gymnasium gegangen. Doch das Wartezimmer war so voll, dass ich auf der Türschwelle umgedreht bin und gedacht habe: „Na, dann gehe ich halt zum Sportunterricht und mache so viel wie geht.“

Und dann ging der Sportunterricht los.

Ja, der Unterricht ging zirka 13:20 Uhr los und um 13.25 oder 13:30 Uhr ging schon der Notruf ein. Das war wirklich eine ganz kurze Zeitspanne. Mein Freund saß auf der Tribüne, der war als Sportstudent anwesend, genau wie mein Volleyball-Trainer. Wir hatten damals Volleyball in der Oberstufe. Ich erinnere mich noch, dass wir uns zur Aufwärmung Medizinbälle zugeworfen haben. Und meine Freundin sagte mir später: „Du hast mir den Medizinball zugeworfen und bist einfach umgefallen.“

„Wenn die Ersthelfer nicht mit der Wiederbelebung begonnen hätten, hätte ich keine Chance mehr gehabt.“

Was ist dann passiert?

Das weiß ich nur aus Erzählungen. Mein damaliger Freund kam wohl direkt zu mir und hat mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen. Mein Volleyball-Trainer hat einen Notruf abgesetzt und der Sportlehrer von den Jungs kam mit dazu und hat mit wiederbelebt. Die Sportlehrerin war ein bisschen überfordert, das hat sie im Nachhinein selbst gesagt.

Wann ist der Notarzt eingetroffen?

Innerhalb der nächsten 7 bis 8 Minuten war der Notarzt vor Ort. Wenn die Ersthelfer nicht mit der Wiederbelebung begonnen hätten, hätte ich keine Chance mehr gehabt. Ich bin den Dreien heute dafür immer noch sehr dankbar.

Und dann sind Sie ins Krankenhaus gekommen?

Ja, im Krankenhaus bin ich noch eine Stunde weiter reanimiert worden. Meine Mama ist Krankenschwester in dem Krankenhaus, hatte an dem Tag Dienst und von einer Kollegin erfahren, dass ich auf der Intensivstation liege. Sie ist dann runter und hat auf der Intensivstation gesehen, wie die Ärzte mich wiederbelebt haben. Und hinterher hat ein Arzt gesagt, die Prognose sei nicht so gut. Meine Eltern müssten gucken, dass sie ein Pflegebett bekommen – für den Fall, dass ich überhaupt wieder aufwache. Aber im Gehirn wäre da nicht mehr viel. Mein Vater sagt heute immer noch: Wieso konnten die nicht erstmal vom Guten ausgehen?

Diese schlimme Prognose hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet.

Ich bin am nächsten Tag gegen 17:00 Uhr wieder aufgewacht. Mein erster Spruch muss wohl gewesen sein: „Ich will eine Cola.“ Das hat meine Mama im Nachhinein so erzählt: „Du wachst auf und willst eine Cola haben – und wir haben uns Gedanken gemacht, ob wir überhaupt noch eine Tochter haben.“

Und wissen Sie heute, was Sie damals hatten?

Schuld war eine Embolie – ein kleines Blutgerinnsel, das durch den Körper gewandert und in der Lunge stecken geblieben ist. Nach einiger Zeit wurde mir eine heterozygote Prothrombin-Mutation diagnostiziert. Das ist eine Gerinnungsstörung, die mein Blut dazu bringt, in Situationen des langen Sitzens – bei Flugreisen, nach OPs etc. – eher zu gerinnen als bei anderen Menschen. Mein Körper hat durch die Einnahme der Pille damals sowie durch diese Gerinnungsstörung eine Thrombose im Bein produziert, die wohl zusätzlich durch eine Volleyballverletzung, einen verstauchten Knöchel, zwei Monate zuvor unterstützt wurde. Diese Thrombose führte dann zur Embolie.

„Meine Perspektive auf das Leben und auf das, was wichtig ist, hat sich geändert.“

Wie lange mussten Sie im Krankenhaus bleiben?

Ich war vier Wochen im Krankenhaus. Danach bin ich zwecks Reha in eine Klinik in Kreischa bei Dresden verlegt worden. Und dort war ich dann auch nochmal drei, vier Wochen. Ich glaube, ich war eine ganz ungemütliche Patientin. Also ungemütlich im Sinne von: „Ich will einfach nach Hause, lasst mich gehen, ich will zu meinem Training, ich will in meine Schule, ich will mein Abi machen.“ Ich hatte überhaupt keine Geduld für den ganzen Genesungsprozess. Physiotherapie habe ich dann aber noch einige Jahre gemacht. Da bei der Wiederbelebung ein paar Rippen gebrochen sind, habe ich anfangs auch manuelle Therapie bekommen. Die sind dann aber natürlich auch wieder zusammengewachsen.

Auch für die Menschen in Ihrem Umfeld, insbesondere Ihre Familie, muss das eine harte Zeit gewesen sein.

Man hat schon gemerkt, dass meine Eltern plötzlich auch ein bisschen am Klammern waren. Sie wollten nach der Geschichte nicht, dass ich nach Australien gehe. Zudem hat meine Uroma damals, als ich in der Reha war, eine Krebsdiagnose bekommen. Da habe ich entschieden, dass ich in dieser Situation nicht nach Australien fliegen kann. Mein Opa hat mir dann einen Flyer von der Rettungsdienst-Schule in Meiningen in die Hand gedrückt und gesagt: „Mensch, guck doch mal, ob du jetzt eventuell in die Richtung Medizin gehen willst.“

Ihren ursprünglichen Plan, Lehrerin zu werden, haben Sie also zugunsten der Medizin aufgegeben?

Ich bin trotzdem Lehrerin geworden – nur nicht für Geografie und Latein, sondern für medizinische Themen. Ich habe die Ausbildung an der Rettungsdienst-Schule absolviert und bin Notfallsanitäterin, Ausbilderin im Rettungsdienst sowie Erste Hilfe-Ausbilderin geworden. Bei uns an der Schule in Meiningen bin ich Abteilungsleiterin für die Rettungssanitäter und durfte bereits ganz viele Erste Hilfe-Ausbilder ausbilden. Somit bin ich trotzdem im pädagogischen Bereich gelandet.

Wie hat Sie dieses Erlebnis verändert?

Wenn man das Leben in der Reha-Klinik sieht – schwerstkranke Kinder und Teenager mit Leukämie oder nach Verkehrsunfällen – dann lacht man über eine schwierige Klausur, über die Hausaufgaben, einen Streit und über eine kaputte Waschmaschine sowieso. Das sind Punkte, an denen ich mich auch im Umgang mit Freunden und Familie sehr verändert habe. Anstatt über eine schwere Klausur zu diskutieren, habe ich denen gesagt: „Ich bin jetzt lieber glücklich und setze mich aufs Moped.“ Meine Perspektive auf das Leben und auf das, was wichtig ist, hat sich geändert. Manche Themen konnte ich einfach nicht mehr ernst nehmen.

Heute geht es Ihnen also sehr gut?

Ja, heute ist alles gut. Damals, 2009, hätte niemand gedacht, dass ich mit der Gerinnungsstörung später einmal Kinder haben würde – inzwischen ist aber schon das zweite unterwegs. Ich habe danach sogar noch einen Tauchschein gemacht.

„Ich habe realisiert, dass ich nicht einfach krank war, sondern wirklich großes, großes Glück gehabt habe.“

Bei Ihrer Ausbildung wurden Sie täglich mit Extremsituationen konfrontiert. Wie war das für Sie als eine Person, die selbst einmal betroffen war?

Wenn man die Wiederbelebungs-Statistiken kennenlernt – 1 von 100 Reanimationen ist primär erfolgreich –, beginnt man zu grübeln. Ich habe im Grunde erst in der Ausbildung angefangen, mich mit dem Vorfall auseinander zu setzen. Ich habe realisiert, dass ich nicht einfach krank war, sondern wirklich großes, großes Glück gehabt habe. Außerdem habe ich auch wieder Ängste gespürt, Panikattacken, habe nachts nicht richtig schlafen können. Ich hatte am Anfang auch totale Probleme, wenn mich jemand in den Arm nehmen wollte, weil dieser Druck auf den Brustkorb meinem Körper immer wieder signalisiert hat, so war es in der Wiederbelebung.

Haben Sie professionelle Hilfe erhalten?

Irgendwann hat mich ein Dozent in Meiningen angesprochen und gesagt, er kenne eine gute Therapeutin, die sich viel mit Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr-Einsatzkräften beschäftigt. Und die Therapeutin hat ganz schnell gemerkt, dass ich eigentlich nur nach außen selbstbewusst und cool wirke, aber sobald man näher hinschaut, erkennt man, dass mein Körper, mein Unterbewusstsein, ganz viele Erinnerungen abgespeichert hat. Ich hatte eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, die ich auch bis heute in gewissen Situationen spüre.

Sie haben es geschafft, Ihre Erlebnisse zu verarbeiten und retten heute als Notfallsanitäterin selbst Menschenleben. Was haben Sie aus Ihren beruflichen Erfahrungen gelernt?

Eigentlich muss man der Bevölkerung immer wieder mitteilen, dass wir alle nur das eine Herz haben, das uns durchs ganze Leben trägt. Das müssen wir bewusst schützen. Und es verhält sich mit dem Herzen wie überall sonst auch: Wenn ich mein Auto immer auf Vollgas fahre, dann ist der Verschleiß deutlich höher. Wenn ich spüre, dass ich Atemnot habe oder mir bei Belastung das Herz wehtut, muss ich zum Arzt gehen.

Was für Patienten haben Sie hauptsächlich?

Die sind im Schnitt etwa 50, 60 Jahre aufwärts. Darunter sind viele Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben und oftmals viel Stress hatten. Was auch typisch ist: Die Menschen sind sehr ungeduldig und denken, die Beschwerden gingen von selbst wieder weg. „Was alleine kommt, das geht auch alleine“, das ist ein typischer Spruch, wenn man Menschen mit Herzinfarkt fragt. Überwiegend finden wir unsere Patienten übrigens zu Hause vor.

„Im Gehirn sind nach drei Minuten ohne Sauerstoff erste Schäden da.“

Zu Hause sind ja oftmals Angehörige zugegen, die helfen können, oder?

Es kommt vor, dass gar nicht wiederbelebt wird: Wenn wir ankommen, stehen die Angehörigen weinend und schreiend in der Tür: „Der Opa liegt oben und reagiert nicht mehr!“ Aber im Gehirn sind nach drei Minuten ohne Sauerstoff erste Schäden da – da sitzen wir vielleicht gerade im Auto und geben im Navi die Adresse ein. Oder es wird auf dem Bett wiederbelebt. Das geht natürlich auch nicht. Es muss schon ein harter Untergrund sein – wie bei mir in der Turnhalle. Nur dann kann der Brustkorb wirklich auch komprimiert werden.

Wenn Menschen gar nicht eingreifen - was hält sie davon ab, selber wiederzubeleben?

Angst, etwas falsch zu machen – das wird in den Erste-Hilfe-Kursen immer wieder deutlich. Da heißt es dann: „Ich habe Angst, eine Rippe zu brechen. Ich habe Angst, dass ich ihm weh tue.“ Ich habe da einen Lieblingsspruch als Dozentin in der Ersten Hilfe: „Wenn jemand nicht wiederbelebt werden möchte, beschwert der sich schon bei euch!“

Was raten Sie Menschen, die Berührungsängste haben?

Wenn Corona-Pandemie ist, jemand Erbrochenes am Mund oder einen komischen Bart hat und ich mag den nicht knutschen – dann lasse ich es bleiben. Dann drücke ich einfach nur: Mache den Oberkörper frei und schaffe eine harte Unterlage. Das ist ganz, ganz wichtig, dass der Untergrund hart und leer ist. Alles ist besser als nichts. Dabei lieber einmal mehr als einmal zu wenig drücken. Im Idealfall kann man noch in einem schönen Takt singen – zum Beispiel „Happy Birthday“ oder „Biene Maja“ oder „Staying Alive“ von den Bee Gees. Selbst „Atemlos durch die Nacht“ von Helene Fischer funktioniert. Und wenn ich nicht wiederbeleben kann, oder wenn ich es mir nicht zutraue, dann schnappe ich mir jemand anderen. Hauptsache, einer übernimmt das Kommando. Wichtig ist auch, frühzeitig den Notruf abzusetzen, weil dort Menschen am Telefon sind, die Ahnung haben und den Anrufern Fragen stellen.

„Mein Tipp ist es, Erste-Hilfe-Kurse im Klassenverband, im Familien- oder im Freundeskreis anzubieten. Dort sind alle vom ersten Moment an offener.“

Wie könnte das Wissen für Erste Hilfe noch besser innerhalb der Bevölkerung verbreitet werden?

Ich glaube, ein ganz großes Problem ist die extrinsische Motivation für den Erste-Hilfe-Kurs. Damit meine ich die extrinsische Motivation im Sinne von: „Ich muss diesen Kurs jetzt machen, damit ich meinen Führerschein bekomme.“ Deshalb versuche ich immer, aus dieser extrinsischen Motivation eine intrinsische zu machen, sodass die Leute wirklich Lust darauf haben, weil sie es für sich, für ihr Leben und ihre Familie machen. Mein Tipp ist es – und das sind wir jetzt in Hildburghausen und in anderen Gymnasien in Thüringen auch angegangen –, Erste-Hilfe-Kurse im Klassenverband, im Familien- oder Freundeskreis anzubieten. Dort sind alle vom ersten Moment an offener, weil sie in ihrer sozialen Gruppe sind. In einer fremden Gruppe trauen sich manche Menschen gar nicht, Fragen zu stellen, die vielleicht wichtig wären.  

Wie finde ich denn am einfachsten einen Erste-Hilfe-Kurs?

Bei den Hilfsorganisationen in Ihrer Nähe. Einfach mal „Erste Hilfe“ in der Suchmaschine eingeben, vielleicht auch mit dem Standort Ihres Handys, dann erhalten Sie sofort Anbieter in Ihrem Umkreis. Dort kann man einfach mal anfragen. Es muss auch nicht immer der volle Erste-Hilfe-Kurs mit Zertifikat und allem Drum und Dran sein – man kann auch sagen, man würde gerne eine Stunde etwas zum Thema Wiederbelebung hören.

Links zu Erste-Hilfe-Kursen finden Sie außerdem hier [Anm. der Red.]

Frau Rothmann, wir danken Ihnen für Ihre Offenheit und das Gespräch