Jörg Fricke
Herr Fricke, vielen Dank, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben, Ihre Erlebnisse mit uns zu teilen. Können Sie sich noch an den Tag erinnern, an dem Sie eine Reanimation durchgeführt haben?
Ja. Das war ein schöner Frühlingstag vor sieben oder acht Jahren. Meine Frau und ich sind im Harz ein wenig spazieren gewesen und waren gerade auf dem Rückweg auf der Landstraße – auf einer beliebten Motorrad-Strecke. Oben befindet sich die Okertalsperre und von dort führt die Straße kurvig runter. Auf dieser Straße sind wir auf die Unfallstelle gestoßen. Wir hätten sie fast verpasst, weil meine Frau nach dem Wandern Steine im Schuh hatte. Den haben wir auf dem Parkplatz ausgeleert, wodurch wir drei, vier Minuten länger gebraucht haben – und so war die Motorradgruppe direkt vor uns. „Dort lag ein Motorradfahrer mitten auf der Straße, ein paar Meter von seinem Motorrad entfernt.“
Was haben Sie an der Unfallstelle vorgefunden?
Wir kamen an eine Kurve und vor uns standen schon zwei oder drei Autos. Es waren bereits Personen ausgestiegen und schauten in die Kurve rein – und dort habe ich ein Motorrad liegen sehen. Ich bin mit meiner Frau ausgestiegen und habe zu ihr gesagt: „Setz sofort den Notruf ab!“ Dann habe ich den Verbandskasten aus dem Kofferraum geschnappt und bin direkt zur Unfallstelle. Dort lag ein Motorradfahrer mitten auf der Straße, ein paar Meter von seinem Motorrad entfernt. Mehrere Menschen standen um ihn herum, darunter auch ein paar andere Motorradfahrer. Ich dachte: „Was ist hier los? Das kann doch nicht sein! Da liegt einer und ihr steht drum herum.“
Was haben Sie dann getan?
Ich habe mich gleich hingekniet, den Motorradfahrer vorsichtig an der Schulter berührt und gefragt: „Hallo, was ist passiert?“ Es kam aber keine Reaktion. Daraufhin habe ich geguckt, ob ich eine Atmung feststelle, aber der hatte eine dicke Lederjacke an und so habe ich nichts gemerkt. Dann habe ich versucht, am Helm vorbei den Puls zu fühlen, aber auch dort habe ich nichts gefühlt. Jetzt wusste ich aber nicht, ob das vielleicht am Helm liegt. Deshalb habe ich gesagt: „Ich brauche mal jemanden, der mir hilft, den Helm runterzunehmen!“
Wie war die Reaktion der Umstehenden?
Da ging die Diskussion los! Nein, der Helm müsse drauf bleiben, der dürfe nur vom Notarzt abgenommen werden. Und da habe ich so für mich gedacht: „Mein Gott, wie lange ist eure Sanitäter-Ausbildung her?“ Das hat man vor vielen Jahren gelehrt, dass der Motorradhelm nicht abgenommen werden darf. Aber so kann ich keinem Menschen helfen, gerade wenn er vielleicht wirklich beatmet werden muss. Ich habe den Helm dann alleine abgenommen.
Was ist dann passiert?
Dem Motorradfahrer lief eine Flüssigkeit aus dem Mund. Das sah ein bisschen wie Erbrochenes aus. Da dachte ich ehrlich gesagt: „Ich glaube nicht, dass ich ihn beatmen kann.“ Dann habe ich die Jacke aufgemacht, damit ich den Brustkorb frei habe. Ich habe geschaut: Gibt es da irgendwelche äußeren Verletzungen? Aber da waren überhaupt keine Verletzungen zu sehen. Dann wollte ich gerade mit der Herzmassage anfangen, als eine junge Frau dazu kam.
„Nach dem Vorfall habe ich mir eine Beatmungsmaske zugelegt, die ich jetzt immer im Auto dabeihabe.“
Hat die Frau Ihnen Hilfe angeboten?
Sie hat sich dazu bereit erklärt, die Beatmung zu übernehmen. Da war ich natürlich heilfroh, dass ich eine zweite Person dabeihatte und nicht mehr ganz alleine war. Nach dem Vorfall habe ich mir eine Beatmungsmaske zugelegt, die ich jetzt immer im Auto dabeihabe, falls ich einmal jemanden beatmen muss.
Und dann haben Sie die Reanimation begonnen?
Ja, wir haben dann mit der Reanimation begonnen: klassische Wiener Schule, 30:2, also dreißigmal Herzmassage, zweimal beatmet. Und was erstaunlich für mich war, meine ersten Gedanken waren: „Oh Gott, das ist genau wie an der Puppe.“ Wirklich, ich fand das in gewisser Weise erschreckend, aber auch gut, dass sich das fast genauso angefühlt hat wie bei der Puppe.
Was ist Ihnen während der Reanimation noch durch den Kopf gegangen?
Ich habe dann eigentlich abgeschaltet. Ich habe nur noch drauf geachtet, 30 Mal laut vor mich hin zu zählen und versucht, den Rhythmus beizubehalten. Irgendwie geriet ich in eine Routine, eine Schleife, sodass ich eigentlich an nichts Anderes mehr gedacht habe. Ich habe auch drum herum nichts mehr wahrgenommen. Ich war wirklich völlig konzentriert auf den armen Motorradfahrer, der vor mir lag.
Wann ist der Notarzt eingetroffen?
Notarzt und Sanitäter kamen nach ungefähr 15 Minuten. Das hat mir meine Frau erzählt, man selber hat kaum Zeitgefühl. Der Notarzt ist an den Kopf gegangen und hat versucht, den Motorradfahrer zu intubieren. Die zwei Rettungssanitäter haben sich daneben gekniet, der eine hat Zugänge gelegt, der zweite hat das EKG angeschlossen. Ich habe weitergemacht und da konnte ich auf dem EKG-Monitor wunderbar die Ausschläge sehen, wenn ich gedrückt habe.
„Ich bin der Meinung, eine halbe Stunde hält man das durch, wenn man muss.“
Also haben Sie über 15 Minuten lang wiederbelebt?
Ja, 20 bis 25 Minuten habe ich das gemacht und ich bin überhaupt nicht fit. Aber es war nicht so, dass ich dachte, ich könne nicht mehr und müsse abgelöst werden. Ich habe das die ganze Zeit kontinuierlich durchmachen können, ohne hinterher zu sagen, ich bin jetzt kräftemäßig völlig am Ende. Nein, ich bin der Meinung, eine halbe Stunde hält man das durch, wenn man muss.
Möchten Sie uns erzählen, wie es ausgegangen ist?
Irgendwann hat der eine Rettungssanitäter den Bauchraum abgetastet und hat dann zum Notarzt geguckt und den Kopf geschüttelt. Und da wusste ich natürlich, was das bedeuten sollte.
Das muss ein schwerer Moment gewesen sein.
Ja. Aber ich war hinterher trotzdem froh, alles gemacht zu haben, was man machen konnte. Ich brauche mir nicht vorwerfen, nur rumgestanden zu haben.
Ich dachte: „Mein Gott, der liegt vor euch, tut doch mal was!“
So wie einige andere?
Ja, das das fand ich am Anfang so schlimm, dass alle nur rumstanden. Die anderen Motorradfahrer aus der Gruppe kann ich verstehen, die standen natürlich unter Schock. Aber da waren auch mehrere Pkw-Fahrer. Die junge Frau war die Einzige, die wirklich mitgeholfen hat. Irgendwie komisch, ich dachte: „Mein Gott, der liegt vor euch, tut doch mal was!“
Woher wussten Sie so genau, was zu tun ist?
Ich bin in meiner Firma Ersthelfer und mache alle zwei Jahre die Ausbildung mit. Einer meiner Mitarbeiter kann Erste Hilfe ausbilden. Mit dem stimme ich mich auch ab: „Komm, wir machen die Unterrichte, du besorgst die Puppen und ich erstelle die Pläne, wer wann zu welchem Ausbildungstermin geht.“ So stellen wir sicher, dass wir immer genügend Ersthelfer auszubilden. Wir haben bei uns sogar Defibrillatoren angeschafft, einen vorne in der Verwaltung, einen hinten im Lager. Mein Chef ist da auch sehr hinterher, dass wir diesbezüglich gut aufgestellt sind.
„Helfen ist eigentlich eine Bürgerpflicht, für mich gehört das einfach dazu.“
Was motiviert Sie dazu, Erste Hilfe zu leisten?
Ganz einfach: Ich finde es schlimm, wenn man nicht hilft, ich könnte niemals irgendwo vorbeigehen. Helfen ist eigentlich eine Bürgerpflicht, für mich gehört das einfach dazu. Und die Vorstellung, dass ich mal in solch eine Situation gerate und mir dann keiner hilft – das fände ich genauso schrecklich. Wir leben nun mal in einer zivilen Gemeinschaft und dann ist das selbstverständlich, dass man einander hilft. Außerdem kann es auch im direkten Umfeld passieren: bei Vater, Mutter, Geschwisterkind, Ehepartner. Jeder kann in solch eine Situation kommen. Dann ist es doch nur gut, wenn ich da nicht einfach hilflos danebenstehe.
Was denken Sie, was andere Menschen davon abhält, zu helfen?
Ich glaube, es ist teilweise Angst, etwas falsch zu machen. Und gerade wenn schon eine Gruppe da ist, muss man ja theoretisch aus der Gruppe heraustreten und sagen: „Okay, ich übernehme jetzt!“ Und ich glaube, viele denken, es stehen genug andere herum, sollen die doch was machen.
„So eine Herzdruckmassage ist wirklich keine Raketenwissenschaft.“
Was könnte die anderen motivieren, doch einzugreifen?
Einer muss die Initiative ergreifen: „Du sperrst die Straße ab, du rufst den Rettungswagen und du holst den Verbandskasten!“ Man sollte die Leute gezielt ansprechen und sie einfach in die Pflicht nehmen. Da habe ich bei der Diskussion, ob der Helm runter muss oder nicht, vielleicht auch einen Fehler gemacht. Ich hätte einfach sagen sollen: „Du, hilf mir mal, den Helm abzunehmen.“ Irgendeiner muss aus der Gruppe heraustreten und den Anfang machen. Ich glaube, wenn einer anfängt, dann machen die anderen auch mit. So eine Herzdruckmassage ist wirklich keine Raketenwissenschaft. Das ist eine relativ einfache Geschichte, da kann jeder mithelfen.
Was würden Sie Menschen sagen, die Erste Hilfe geleistet haben und leider in so eine Situation kommen wie Sie, dass der Patient nicht überlebt?
Ich finde nichts schlimmer, als wenn ich mir hinterher vorwerfen muss: „Oh mein Gott, hättest du dieses oder jenes gemacht, vielleicht wäre die Person noch am Leben.“ Ich habe es versucht und das ist doch, was zählt. Nichts ist schlimmer als Nichtstun. Man kann nichts falsch machen. Das Einzige, was man wirklich falsch machen kann, ist nicht zu helfen. Reanimation hat für mich nichts mit Heldentum zu tun – das ist einfach eine Selbstverständlichkeit.
Herr Fricke, wir danken Ihnen für Ihre Offenheit und das Gespräch